In Tunesien, Algerien und Marokko finden insbesondere gut
ausgebildete Arbeitskräfte kaum eine Stelle. Jetzt vernetzen sich
Arbeitsloseninitiativen zu einer breiten sozialen Bewegung und fordern
grundsätzliche Veränderungen.
Am 12. März steckte sich Adel Khadri in Tunis öffentlich in Brand.
Der 27-jährige Arbeitslose hatte sich bis dahin durchgeschlagen, indem
er im Stadtzentrum von Tunis Zigaretten auf der Strasse verkaufte.
Khadris Selbstmord erinnert in vielen Punkten an den von Mohamed
Bouazizi: Der 26-Jährige hatte sich im Dezember 2010 in der
zentraltunesischen Stadt Sidi Bouzid selbst verbrannt, was die
tunesischen Unruhen und schliesslich den sogenannten Arabischen Frühling
auslöste – die Umbrüche und Umbruchversuche von Marokko im Westen bis
in die Golfstaaten im Osten des arabischen Raums.
Nach mehrwöchigen Demonstrationen und Unruhen stürzte die tunesische
Bevölkerung im Januar 2011 den langjährigen Präsidenten Zine al-Abidine
Ben Ali. Das ist mit ein Grund, weshalb das seit 2000 jährlich
stattfindende Weltsozialforum erstmals im arabischen Raum zu Gast ist;
es tagt derzeit in Tunis. Doch bei vielen TunesierInnen und anderen
MaghrebinerInnen, die aufgrund der politischen Umwälzungen auch auf
soziale Verbesserungen hofften, macht sich inzwischen grosse
Enttäuschung breit.
Besonders stark leiden junge HochschulabgängerInnen unter den
Wirtschaftsstrukturen, in denen praktisch nur billige Arbeitskräfte eine
Chance haben (vgl. «Arbeitslose mit Diplom»). Diese gut ausgebildete
Arbeitslosengruppe organisiert sich seit einigen Jahren im ganzen
Maghreb. In Marokko hat die Strukturierung schon 1991 mit der
offiziellen Zulassung der Vereinigung der arbeitslosen Diplomierten, der
Association nationale des diplômés chômeurs, begonnen. In Tunesien
dagegen war sie erst nach dem Sturz des Polizeistaats von Ben Ali
überhaupt möglich geworden.
Grösste soziale Bewegung seit 2011
Heute tauschen sich diese Verbände im Maghreb – in Tunesien,
Algerien, Marokko und Mauretanien – intensiv untereinander aus. Am 20.
Februar versuchten sie in Algier eine gemeinsame Delegiertenkonferenz
abzuhalten, die auch der inhaltlichen Vorbereitung des Weltsozialforums
in Tunis hätte dienen sollen. Doch die Tagung im Gewerkschaftshaus der
algerischen Hauptstadt, wo die unabhängige
Staatsbedienstetengewerkschaft Snapap sie als Gäste aufgenommen hatte,
wurde jäh unterbrochen: Die Polizei umzingelte das Gebäude, nahm die
TeilnehmerInnen fest und durchwühlte später auch die Hotelzimmer von
Delegierten. Ein Dutzend ausländische Delegierte wurde nach Tunesien und
Marokko abgeschoben.
In Algerien selbst konnte dies die laufenden Arbeitslosenproteste
nicht bremsen. Dort stellen die Arbeitslosenkomitees die mit Abstand
grösste soziale Bewegung seit dem massiven Aufruhr im Januar 2011 dar.
Von Protesten erfasst sind insbesondere Städte in Südalgerien wie
Ouargla, Laghouat oder Hassi R’Mel – Orte in einer Region also, deren
BewohnerInnen in unmittelbarer Nachbarschaft zur Erdöl- und
Erdgasförderung leben. Doch Jobs bekommen die Menschen höchstens bei
Subsubunternehmen der Öl- und Gaswirtschaft, wo miserable
Arbeitsbedingungen vorherrschen. Am 13. März schrieb die algerische
Tageszeitung «El Watan» in diesem Zusammenhang denn auch von einer
«neuen Form der Sklaverei».
Am 14. März fand in Ouargla eine Demonstration von über 10 000
Arbeitslosen aus unterschiedlichen Landesteilen statt. Aufgerufen dazu
hatte zunächst das Nationale Komitee für die Verteidigung der Rechte der
Arbeitslosen; es folgte die Mobilisierung vieler lokaler Gruppen. Die
Stadt in der Sahararegion zählt nur rund 133 000 EinwohnerInnen. Doch
AktivistInnen waren per Bus oder Flugzeug aus ganz Algerien angereist.
Einige Delegierte waren allerdings auf dem Weg nach Ouargla auf der
Strasse angehalten und vorübergehend festgenommen worden.
Systematische Verwirrung
«Differenzen um den Marsch», wie es «El Watan» formulierte, waren
noch am Vortag des Protestmarschs in aller Öffentlichkeit laut geworden:
Gewisse Mitorganisatoren hätten eine Absage des geplanten Marschs
verkündet. Solche Irritationen sind in Algerien allerdings nichts Neues:
Wie es zu seinen Gepflogenheiten gehört, hatte das Regime auch diesmal
ihm genehme «Aktivistengruppen» bilden lassen, die als Anführer der
Bewegung auftraten. Auch viele «autonome», das heisst staatsunabhängige
und nicht dem gewerkschaftlichen Dachverband UGTA angehörende
Gewerkschaften sind in Algerien damit konfrontiert, dass neben ihnen
jeweils sogenannte Klone existieren: Organisationen sehr ähnlichen
Namens, die an den Staatsapparat gebunden sind und zu Verwechslungen
verleiten sollen.
Im Vorfeld des Marschs hatten zudem mehrere PolitikerInnen mit
Verschwörungstheorien um sich geworfen. Sie beschworen den Verdacht,
eine «ausländische Hand» stecke hinter den Protesten. Ein Abgeordneter
der Regierungspartei FLN sprach von einer Strategie, die darauf ziele,
Algerien in «den Pfuhl des Chaos» zu zerren. Der unabhängige
Gewerkschafter und Unterstützer der organisierten Arbeitslosen Yacine
Zaid, der im algerischen Laghouat lebt, sagte gegenüber der WOZ: «Wer
soll uns nicht alles unterstützt haben: Die CIA. Der französische
Philosoph Bernard-Henri Lévy, angeblich, um eine Destabilisierung
Algeriens und ein Szenario ähnlich wie in Libyen 2011 einzuleiten. Oder
Katar.»
Der harte Kern der AktivistInnen um den Sprecher Tahar Belabès liess
sich jedoch nicht beirren, sondern behielt den Protesttermin in Ouargla
bei. Auch die Drohung mit massiver Polizeipräsenz hielt die 10 000
Arbeitslosen nicht davon ab. Ein reibungsloser, friedlicher Protest.
Selbst die Polizei hielt sich zurück und trat vor allem in Form von kaum
sichtbaren ZivilbeamtInnen in Erscheinung.
Arbeitslose mit Diplom
Sogenannte «diplômés chômeurs» (Arbeitslose mit Hochschulabschluss)
bilden eine eigene soziale Kategorie in den Ländern des Maghreb. Anders,
als man dies aus europäischen Staaten kennt, wächst das
Arbeitslosigkeitsrisiko dort für junge Menschen, je höher ihr
Bildungsabschluss ist, sofern sie nicht über Unterstützung durch ein
familiäres Beziehungsnetz verfügen. Junge Menschen mit guter Bildung
gelten als potenziell gefährlich. Im Arbeitsmarkt haben vor allem
billige und möglichst willige Arbeitskräfte eine Chance.
Marokko wies im Jahr 2006 einen Arbeitslosenanteil von 4,8 Prozent
unter den «Nichtdiplomierten», aber von 30,1 Prozent bei
HochschulabgängerInnen aus. Seit 2008 hat sich die Differenz zwar
verringert, nicht zuletzt, weil sich internationale Banken in Marokko
ansiedelten. Doch nach wie vor bleibt eine Kluft. Die offizielle
Arbeitslosenrate betrug in Marokko (2012) insgesamt 9,9 Prozent, aber
19,2 Prozent bei den unter 24-Jährigen. In Tunesien lag sie zur
Jahresmitte offiziell bei knapp 18 Prozent. In beiden Ländern muss von
einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden.
Von Bernard Schmid, Paris
Aucun commentaire:
Enregistrer un commentaire